Als Kind fürchtete sie sich vor der Dunkelheit. Sobald ihre Mutter das Zimmer verließ, kamen die Gespenster hervor. Die saßen im Dunkeln unter der Couch, unter den Sesseln, unter Schränken. Und sie wohnten unter ihrem Bett. Sie lauerten nur auf eine Gelegenheit, sie anzugreifen. Gesehen hat sie sie nie. Doch sie wusste genau, dass sie dort waren. Als sie ungefähr fünfzehn war, fürchtete sie sich vor einigen Lehrern, auch vor einigen Mitschülern. Aber was sie am meisten fürchtete, das war: nicht beliebt zu sein. Nicht liebenswert zu sein. Sie stellte sich immer vor, dass ihre Mitschülerinnen eine geheime Liste führten, auf der sie vermerkten, wie viele Freundinnen sie hatte, wie viele Verehrer, wie viele Verabredungen. Gesehen hat sie so eine Liste nie. Aber sie ahnte, dass es sie gab. Mit fünfundzwanzig fürchtete sie, im Studium zu versagen oder so schlecht abzuschneiden, dass ihr der Einstieg ins Berufsleben verwehrt blieb. Sie fürchtete sich auch davor, dass kein Mann sie attraktiv finden könnte, dass niemand sie lieben würde. Diese Sorge war so groß, dass sie ihren Vorbildern nachzueifern trachtete – Stars, Models. Sie vermutete, dass Männer klare Vorstellungen hatten darüber, wie eine Frau sein müsste. Und sie versuchte, diesen Vorstellungen zu genügen. Später, sie war etwa fünfunddreißig, fürchtete sie sich davor, im Beruf zu versagen, Fehler zu machen, nicht genug Erfolge zu erzielen. Diese Furcht wuchs, obwohl sie viel leistete. Es schien ihr selbst nie genug zu sein. Um dem Druck standhalten zu können, griff sie nach Tabletten – damit sie schlafen konnte und damit sie wach wurde. Sie glaubte, ihr Chef erwartete von ihr, dass sie niemals in ihrem Eifer nachließ. Bei all dem fürchtete sie darüber hinaus, als Mann-Weib verschrien zu sein, wenn sie ihre Weiblichkeit vernachlässigte. Und so strengte sie sich an, diesem Vorurteil keine Nahrung zu geben. Mit fünfundvierzig fürchtete sie, dass ihre Ehe scheitern, dass ihr Mann sie verlassen könnte. Sie hatte so viel Energie in ihren Beruf investiert und sich zu wenig um ihr Privatleben gekümmert. Sie fürchtete auch, nicht mehr attraktiv genug für ihn zu sein. Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, eine Frau müsse attraktiv sein, um geliebt zu werden. Sie akzeptierte, dass für Frauen andere Maßstäbe galten. Die Furcht, dass ihrem Sohn etwas zustoßen, dass er nicht glücklich sein könnte, lähmte sie mit Mitte fünfzig. Kein Tag verging, an dem sie sich nicht sorgte. Sie bemühte sich, beim Wettbewerb mit den anderen Müttern gut abzuschneiden – das erfolgreich abgeschlossene Studium ihres Sohnes, seine hervorragenden Berufsaussichten, seine privaten Erfolge und: die Häufigkeit seiner Besuche und Anrufe bei ihr. Sie fürchtete, wenn sie mit den anderen nicht mithalten könnte, würden die sie für eine schlechte Mutter halten. Vor dem Verlust ihrer Gesundheit, ihrer Fähigkeiten, fürchtete sie sich in ihren Siebzigern. Sie ängstigte sich davor, dass ihr Mann sie verlassen könnte, wenn sie pflegebedürftig wäre. Und sie fürchtete, dass sie ihren Mann eines Tages würde pflegen müssen. Später, sie war weit über achtzig, fürchtete sie sich davor, ihren Mann durch den Tod zu verlieren. Viele Freunde waren schon gegangen. Aber – was sie am meisten fürchtete war, selbst als letzte zu sterben. Den Tod fürchtete sie nicht.